Die Geschichte von Truhentrulla.


Vor drei Wochen habe ich das Manuskript beendet. Ja, und dann passierte das Unumgängliche, das mich in diesem Fall jedes Mal ereilt: Zur Freude über die Vollendung des Werkes gesellt sich ein kleiner Hauch von Wehmut. Gehörten sie doch alle zu mir, diese kecken, frechen, weisen und magischen Wesen. Sie nahmen mich mit in ihre Welt und ließen mich teilhaben an ihren spannenden Erlebnissen, an ihren Gefühlen und kleinen Geheimnissen.
Nun sind sie alle fort, verschwunden, und ich weine bittere Abschiedstränen. Ich sitze an meinem Schreibtisch, ernüchtert, in einer Welt ohne Wunderlichkeiten und Zauberrei. Schade!

Aber da bekanntermassen jedes Ende einen neuen Anfang in sich birgt, warte ich voll Neugierde auf den Moment, an dem sich meine Türe zur Schreibwerkstatt öffnet, sich ein Wesen keck auf mein Sofa setzt und meint seine Geschichte sei auf jeden Fall erzählenswert...

Und hier eine kleine Leseprobe von "Trulla"

Es war einmal...

ein dunkler, dichter Wald. Aber Angst hatte nur, wer sich darin nicht auskannte. Seine Bewohner hingegen kannten jeden Busch, jedes Bächlein, jeden Steg.

Einer dieser Bewohner war Trulla, Truhentrulla. Sie wohnte gleich hinter der fünften Buche. Um sie zu finden musste man allerdings wissen, welche fünfte Buche gemeint war. Die am linken Waldrand oder die am rechten, die neben dem Kaninchenloch oder die auf dem kleinen Hügel. Außerdem kam es ganz darauf an, von welcher Seite aus man zu zählen begann. Die fünfte Buche von Trulla war die hinter der Lichtung, aber nur wenn man von links kam.

Trulla wohnte schon seit vielen Jahren im Wald. Wieviele genau wußte niemand, denn Trollmädchen können so alt werden, dass sie eines Tages die Zeit, die hinter ihnen liegt ganz vergessen haben.
Truhentrulla war trotz ihrer großen Ohren und ihrer Knubbelnase ein besonders schönes Trollmädchen. Das kam daher, dass sie sich die Haare färbte. Grün, denn grün stand ihr besonders gut. Im Sommer hing sie sich ein paar Kirschen zwischen ihre Locken, im Winter Haselnüsse. Das Rezept für ihre Haarfarbe verriet sie niemandem, aber man munkelte, dass es sich um ein eigenartiges Gebräu aus Blättern, Gräsern und Waldalgen handelte, das sie mit Himbeermus parfümierte. Aus diesem Grund blitzte immer wieder eine himbeerrote Strähne zwischen ihrer Haarpracht.

An einem warmen Spätsommertag fand Trulla am Rande eines gelben Getreidefeldes eine alte, kleine Weintruhe. Wer sie dort verloren oder weggeworfen hatte vermochte keiner mehr zu sagen, aber die Kiste war leer und besaß genau die Größe, die Trulla benötigte, um sich ein gemütliches Heim einzurichten.

"Prima", dachte Trulla und schaute zum Himmel auf die herannahenden Regenwolken, "das wird genau die passende Wohnung für mich. Ich bin geschützt vor Wind und Wetter und gemütlich werde ich es mir darin auch machen."
Bisher hatte Trulla es sich unter Blättern bequem gemacht. Allerdings nur im Sommer, wenn die Erde weich und warm war. Im Winter wohnte sie in verlassenen Mäuselöchern.

Trulla stemmte die Hände in die Hüften, lief ein paar mal um die Truhe herum und begutachtete sie von allen Seiten. Die Kiste war ramponiert, das Holz nachgedunkelt, aber sie hatte Charme. Einen besonderen Charme, dachte Trulla. Und sie müßte unter der fünften Buche stehen, unbedingt.

"Na", hörte sie eine Stimme, "brauchst Du Hilfe? Wo soll das gute Stück denn hin?" Trulla schaute sich um, es war niemand zu sehen.
"Hier bin ich!", rief die Stimme ein zweites mal.
"Wo ist denn hier?"
"Hier ist immer da wo man sich gerade befindet."
"Und wo befindest Du Dich gerade?"
"Oooooben, hier oooooben!"
Trulla schaute in die Luft. Nichts!
"Du bist zu langsam. Jetzt bin ich hier. Hier rechts."
Trulla schaute nach rechts. Irgendetwas bewegte sich da in der Luft.
"Und jetzt bin ich links. Links oben."
Das etwas hing an einem Ast, war grasgrün und schaukelte an einem Faden von einer Seite zur anderen. Es war eine Spinne. Eine sehr zarte, wunderschöne. ...


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